Ehemaliges „Milchlädle“ in der Mußmehlstraße gerettet
Großes Interesse der Bürgerschaft am Tag der offenen Tür
Die Sanierung des 1727 erbauten Gehöfts in der Betzinger Mußmehlstraße ist erfolgreich abgeschlossen. Mit einem Tag der offenen Tür wurde das Gebäude am Sonntag, 15. März 2015, der Öffentlichkeit präsentiert und seiner neuen Nutzung übergeben.
Nahezu 800 Besucher staunten am Tag der offenen Tür nicht schlecht über die Ausstrahlung des Gebäudes sowohl von innen wie von außen. Bereits seit der Entfernung des Baugerüsts zum Jahreswechsel wurde deutlich, dass hier direkt neben dem Bürgerhaus Zehntscheuer ein fast 300 Jahre altes denkmalgeschütztes Gebäude vor dem Zerfall gerettet und ein neues Kleinod entstanden ist. Was das Gebäude von außen versprach, wurde auch bei der Gestaltung der Innenräume bestätigt: unter Berücksichtigung der Forderungen des Denkmalschutzes wurden innerhalb einer Bauzeit von knapp zwei Jahren modernste Büroräume mit dem besonderen Flair früherer Zimmermannskunst geschaffen.
Neben z.T. jahrhundertealten Holzbalken und den Sprossenfenstern sowie den Holzvertäfelungen aus der Jahrhundertwende finden sich Netzwerkanschüsse für moderne Medien. Auf wieder hergestellten alten Dielenböden stehen künftig zeitgemäße Schreibtische, Computer und Büromöbel. Die Decken zur Bühne wurden geöffnet und Gauben in das Dach eingebaut, um mehr Licht in die neuen Büroräume zu bekommen.
In dem jetzt hellen, lichten oberen Stockwerk lässt sich erkennen, dass beschädigte Stellen in den Originalbalken mit handwerklicher Zimmermannspräzision ausgetauscht und teilweise verlängert wurden, auch um die Statik wieder herzustellen. Die Sanitäreinrichtungen sind auf neuestem Stand - wo daneben noch das alte historische Plumpsklo mit seinem Bretterschacht und der Fasslatrine an längst vergangene Zeiten erinnert - und selbst der ehemalige Kuhstall, in dem noch die Futtertröge stehen, kann von dem neuen Mieter, einem Steuerberatungsbüro nebst Rechtsanwalt künftig als Registratur genutzt werden.
Das ehemalige „Milch- oder Kolonialwarenlädle“ im Erdgeschoss auf der Giebelseite, das vielen älteren Betzingern noch bekannt sein dürfte, wird dem Förderverein Ortskern Betzingen künftig als Geschäftsstelle dienen.
Voller Stolz hat der Vorsitzende des Fördervereins Ortskernsanierung Betzingen e.V., Thomas Keck, bei der offiziellen Feier zur Fertigstellung des Gebäudes denn auch an die jüngste Vergangenheit des Gebäudes und an die mit der Sanierung verbundenen Aufgaben und Problemstellungen erinnert. Schließlich hatte der Zahn der Zeit schon ordentlich an dem Gebäude genagt - bedingt auch dadurch, weil das Gebäude im Eigentum der Stadt Reutlingen viele Jahre leer stand und die Holzbalken in dem Gebäude bereits stark durch Käferbefall angefressen waren, was der Statik nicht gerade zuträglich war. Günter Kolb, der als Denkmalschützer des Referats Denkmalpflege beim Regierungspräsidium Tübingen während der Sanierungsarbeiten für das Gebäude zuständig war, konstatierte in seiner ihm eigenen offen Art deutlich, dass das heruntergekommene Gebäude ohne die Initiative des Fördervereins heute nicht mehr stehen würde.
Nicht zu unterschätzen war auch die Tatsache, dass das Gehöft ohne Fundament auf Leberkies vom Echaz-Schwemmland gebaut wurde. Kein wirklich stabiler Untergrund, weshalb zur Standsicherheit des bereits in leichte Schräglage gekommenen Hauses, ein Betonfundament eingebaut werden musste.
Andererseits handelt es sich nach Auffassung Kolbs bei diesem ehemaligen Lehenshof um ein Schlüsselbauwerk im Ortskern, das die Betzinger Bautradition in überdurchschnittlicher Weise repräsentiert und das neben dem typischen Betzinger „Trippel“ einige Besonderheiten aufweist: hier findet sich die für den Betzinger Ortskern typische historische Gebäudeform eines Wohn- und Wirtschaftsgebäudes mit zur Straße hin geöffnetem Hofbereich. Aus dem ursprünglichen Haus für eine Familie entstand im Jahre 1802 ein Doppelhaus. Dieser Anbau an der Rückseite des Gebäudes ist entgegen dem vorderen älteren Gebäudeteil überwiegend im Originalzustand erhalten. In einer Küche sind Sandsteinböden verlegt, die heute kaum mehr zu bezahlen wären. Der Keller mit etwa 1.30 Meter Deckenhöhe konnte damals wegen des hohen Grundwasserspiegels nicht anders gebaut werden und das Plumpsklo inmitten des Gebäudes gilt als Kuriosum.
Die Mitgliederversammlung des Fördervereins ließ sich vom schlechten baulichen Zustand nicht entmutigen, sondern davon überzeugen, das Gebäude von der Stadt zu erwerben und einer neuen Nutzung zuzuführen. Erfahrungen mit dem Sanierungsobjekt Zehntscheuer und die Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Hartmaier und Partner sollten dem Förderverein dabei zugute kommen.
Neben den Bauhandwerksprofis waren wie bei der Zehntscheuer regelmäßig auch wieder eine Anzahl treuer freiwilliger Helfer des Vereins auf der Baustelle, um mitzuhelfen, Teile der angebauten Scheune abzubrechen, das Gebäude zu entrümpeln, den Außenputz abzuschlagen, marode Böden und Wände zu entfernen und zu erneuern und vieles andere mehr. Auf rund 2.500 Arbeitsstunden summiert sich die ehrenamtliche Leistung der Bauhelfer um Koordinator Martin Rupp. „Diese Arbeit“, so der Vorsitzende Thomas Keck, „ist nicht hoch genug einzuschätzen und verdient unser aller Dank und Respekt.“
Nach der Fertigstellung der Sanierungsarbeiten am Gebäude soll nun im Anschluss auch das Umfeld des Gebäudes gestaltet und danach die Scheuer standsicher wieder hergestellt werden.
Die Gesamtkosten für die Sanierung und Modernisierung des Lehenshofes einschließlich der Scheune wird sich auf rund 1,3 Mio. EUR belaufen. Davon kommen 490.000 EUR aus dem Sanierungstopf (196.000 EUR Stadt, 294.000 EUR Land). Unterstützt wurde der Förderverein darüber hinaus finanziell wieder durch eine Zuwendung des Denkmalschutzes in Höhe von 120.000 EUR sowie der Denkmalstiftung mit weiteren 80.000 EUR. Hinzu kommen die Eigenmittel des Fördervereins mit etwa 43.000 EUR zuzüglich der Eigenleistungen der freiwilligen Helfer in Form von unzähligen Arbeitsstunden. Der Rest wird über Darlehen finanziert, die über die Mieteinnahmen abbezahlt werden.