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Projekt Mußmehlstraße 6

Nach dem Wohnhaus folgt die Scheuer

Kaum hat der Förderverein Ortskern Betzingen vor wenigen Wochen die Sanierung des 1727 erbauten Gehöfts in der Betzinger Mußmehlstraße erfolgreich abgeschlossen, beschäftigt er sich schon wieder mit dem nächsten Projekt, der zum Gehöft gehörenden ehemals landwirtschaftlich genutzten Scheuer.

Die Eile tut Not, denn bis Jahresende müssen sämtlichen Sanierungsarbeiten im Zuge des Landessanierungsprogramms abgeschlossen und vor allem abgerechnet sein, um in den Genuss der restlichen Landessanierungsmittel zu kommen. Die Stadtverwaltung macht deshalb Druck, gilt es doch, die Abrechnungen termingerecht bis Jahresende 2015 nachzuprüfen und vorzulegen.

Das mit der Sanierung des ehemaligen Lehenshofs beauftragte Architekturbüro Hartmaier und Partner informierte Mitte April 2015 in Person von Architekt Jochen Schmid im Rahmen eines „Werkstattgesprächs“ etliche interessierte Vereinsmitglieder über den engen Zeitplan, die Kosten und Finanzsituation sowie die weiteren Schritte.

Sämtliche Teilnehmer hatten die Möglichkeit, Fragen zum neuen Projekt zu stellen und Anregungen einzubringen - allerdings vor dem wesentlichen Hintergrund, dass vermieden werden soll, genehmigungspflichtige bauliche Veränderungen an der Scheuer vorzunehmen. Auch der Nutzungsschwerpunkt müsse, so Jochen Schmid im Wesentlichen unverändert bleiben.

So soll zunächst zeitnah das Dach mit einem wasserdichten Unterdach versehen und unter Verwendung noch vorrätiger Ziegel neu eingedeckt werden. Das Fachwerk muss ähnlich wie bei der vor wenigen Jahren sanierten Zehntscheuer wieder aufgerichtet und ausgebessert werden. Ein befahrbarer Ziegelboden wird die Scheue wieder befahrbar machen und ein neu einzubauender Zwischenboden mit Treppenzugang erweitert künftig die Lagermöglichkeiten nicht nur für den Förderverein.

Dieser möchte in der Scheuer künftig u.a. eine mobile Bühne für die Zehntscheuer und eine größere Anzahl Stühle, die für Konzertveranstaltungen in der Zehntscheuer vorzuhalten sind, dort unterbringen. Angedacht ist ebenfalls, weitere Lagerflächen z.B. auf der Zwischenebene an den Albverein zur Lagerung der empfindlichen Betzinger Trachten zu vermieten. Ein „Ausgabeklappladen“ könnte darüber hinaus bei Veranstaltungen im Museumsgarten von Vorteil sein.

An der westlichen Giebelseite (Richtung Museumsgarten) des sanierten Wohngebäudes in der Mußmehlstraße wird in Absprache mit dem Landesdenkmalamt der ehemalige Hüttenanbau wieder hergestellt und zusätzliche Toiletten für ebensolche öffentlichen Veranstaltungen eingebaut.

Für diese restlichen Sanierungsarbeiten stehen einschließlich der Platzgestaltung zwischen Wohngebäude und Scheuer noch rund 300.000 EUR zur Verfügung.

Ehemaliges „Milchlädle“ in der Mußmehlstraße gerettet. Großes Interesse der Bürgerschaft am Tag der offenen Tür

Die Sanierung des 1727 erbauten Gehöfts in der Betzinger Mußmehlstraße ist erfolgreich abgeschlossen. Mit einem Tag der offenen Tür wurde das Gebäude am Sonntag, 15. März 2015, der Öffentlichkeit präsentiert und seiner neuen Nutzung übergeben.

Nahezu 800 Besucher staunten am Tag der offenen Tür nicht schlecht über die Ausstrahlung des Gebäudes sowohl von innen wie von außen. Bereits seit der Entfernung des Baugerüsts zum Jahreswechsel wurde deutlich, dass hier direkt neben dem Bürgerhaus Zehntscheuer ein fast 300 Jahre altes denkmalgeschütztes Gebäude vor dem Zerfall gerettet und ein neues Kleinod entstanden ist. Was das Gebäude von außen versprach, wurde auch bei der Gestaltung der Innenräume bestätigt: unter Berücksichtigung der Forderungen des Denkmalschutzes wurden innerhalb einer Bauzeit von knapp zwei Jahren modernste Büroräume mit dem besonderen Flair früherer Zimmermannskunst geschaffen.

Neben z.T. jahrhundertealten Holzbalken und den Sprossenfenstern sowie den Holzvertäfelungen aus der Jahrhundertwende finden sich Netzwerkanschüsse für moderne Medien. Auf wieder hergestellten alten Dielenböden stehen künftig zeitgemäße Schreibtische, Computer und Büromöbel. Die Decken zur Bühne wurden geöffnet und Gauben in das Dach eingebaut, um mehr Licht in die neuen Büroräume zu bekommen.

In dem jetzt hellen, lichten oberen Stockwerk lässt sich erkennen, dass beschädigte Stellen in den Originalbalken mit handwerklicher Zimmermannspräzision ausgetauscht und teilweise verlängert wurden, auch um die Statik wieder herzustellen. Die Sanitäreinrichtungen sind auf neuestem Stand - wo daneben noch das alte historische Plumpsklo mit seinem Bretterschacht und der Fasslatrine an längst vergangene Zeiten erinnert - und selbst der ehemalige Kuhstall, in dem noch die Futtertröge stehen, kann von dem neuen Mieter, einem Steuerberatungsbüro nebst Rechtsanwalt künftig als Registratur genutzt werden.

Das ehemalige „Milch- oder Kolonialwarenlädle“ im Erdgeschoss auf der Giebelseite, das vielen älteren Betzingern noch bekannt sein dürfte, wird dem Förderverein Ortskern Betzingen künftig als Geschäftsstelle dienen.

Voller Stolz hat der Vorsitzende des Fördervereins Ortskernsanierung Betzingen e.V., Thomas Keck, bei der offiziellen Feier zur Fertigstellung des Gebäudes denn auch an die jüngste Vergangenheit des Gebäudes und an die mit der Sanierung verbundenen Aufgaben und Problemstellungen erinnert. Schließlich hatte der Zahn der Zeit schon ordentlich an dem Gebäude genagt - bedingt auch dadurch, weil das Gebäude im Eigentum der Stadt Reutlingen viele Jahre leer stand und die Holzbalken in dem Gebäude bereits stark durch Käferbefall angefressen waren, was der Statik nicht gerade zuträglich war. Günter Kolb, der als Denkmalschützer des Referats Denkmalpflege beim Regierungspräsidium Tübingen während der Sanierungsarbeiten für das Gebäude zuständig war, konstatierte in seiner ihm eigenen offen Art deutlich, dass das heruntergekommene Gebäude ohne die Initiative des Fördervereins heute nicht mehr stehen würde.

Nicht zu unterschätzen war auch die Tatsache, dass das Gehöft ohne Fundament auf Leberkies vom Echaz-Schwemmland gebaut wurde. Kein wirklich stabiler Untergrund, weshalb zur Standsicherheit des bereits in leichte Schräglage gekommenen Hauses, ein Betonfundament eingebaut werden musste.

Andererseits handelt es sich nach Auffassung Kolbs bei diesem ehemaligen Lehenshof um ein Schlüsselbauwerk im Ortskern, das die Betzinger Bautradition in überdurchschnittlicher Weise repräsentiert und das neben dem typischen Betzinger „Trippel“ einige Besonderheiten aufweist: hier findet sich die für den Betzinger Ortskern typische historische Gebäudeform eines Wohn- und Wirtschaftsgebäudes mit zur Straße hin geöffnetem Hofbereich. Aus dem ursprünglichen Haus für eine Familie entstand im Jahre 1802 ein Doppelhaus. Dieser Anbau an der Rückseite des Gebäudes ist entgegen dem vorderen älteren Gebäudeteil überwiegend im Originalzustand erhalten. In einer Küche sind Sandsteinböden verlegt, die heute kaum mehr zu bezahlen wären. Der Keller mit etwa 1.30 Meter Deckenhöhe konnte damals wegen des hohen Grundwasserspiegels nicht anders gebaut werden und das Plumpsklo inmitten des Gebäudes gilt als Kuriosum.

Die Mitgliederversammlung des Fördervereins ließ sich vom schlechten baulichen Zustand nicht entmutigen, sondern davon überzeugen, das Gebäude von der Stadt zu erwerben und einer neuen Nutzung zuzuführen. Erfahrungen mit dem Sanierungsobjekt Zehntscheuer und die Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Hartmaier und Partner sollten dem Förderverein dabei zugute kommen.

Neben den Bauhandwerksprofis waren wie bei der Zehntscheuer regelmäßig auch wieder eine Anzahl treuer freiwilliger Helfer des Vereins auf der Baustelle, um mitzuhelfen, Teile der angebauten Scheune abzubrechen, das Gebäude zu entrümpeln, den Außenputz abzuschlagen, marode Böden und Wände zu entfernen und zu erneuern und vieles andere mehr. Auf rund 2.500 Arbeitsstunden summiert sich die ehrenamtliche Leistung der Bauhelfer um Koordinator Martin Rupp. „Diese Arbeit“, so der Vorsitzende Thomas Keck, „ist nicht hoch genug einzuschätzen und verdient unser aller Dank und Respekt.“

Nach der Fertigstellung der Sanierungsarbeiten am Gebäude soll nun im Anschluss auch das Umfeld des Gebäudes gestaltet und danach die Scheuer standsicher wieder hergestellt werden.

Die Gesamtkosten für die Sanierung und Modernisierung des Lehenshofes einschließlich der Scheune wird sich auf rund 1,3 Mio. EUR belaufen. Davon kommen 490.000 EUR aus dem Sanierungstopf (196.000 EUR Stadt, 294.000 EUR Land). Unterstützt wurde der Förderverein darüber hinaus finanziell wieder durch eine Zuwendung des Denkmalschutzes in Höhe von 120.000 EUR sowie der Denkmalstiftung mit weiteren 80.000 EUR. Hinzu kommen die Eigenmittel des Fördervereins mit etwa 43.000 EUR zuzüglich der Eigenleistungen der freiwilligen Helfer in Form von unzähligen Arbeitsstunden. Der Rest wird über Darlehen finanziert, die über die Mieteinnahmen abbezahlt werden.

Die Idee - Büros in historischem Gemäuer

Der Förderverein Ortskern Betzingen e.V. hat das Areal Mußmehlstraße 6 erworben, um seine Sanierung zu ermöglichen. Getreu dem Motto "Schützen durch Nützen" sollen in dem historischen Gebäude Büros für den Förderverein sowie für Steuerberater und eine Rechtsanwaltskanzlei entstehen.

Die Geschichte des Anwesens

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Zeichnung von Eva-Maria Fink

Ein Teil eines Lehenhofes des Reutlinger Spitals (Quelle: Reutlinger Geschichtsblätter, Nr. 25, Jahrgang 1986)

Das Anwesen liegt mitten im alten Dorfkern von Betzingen. Wie einem Beitrag in den Reutlinger Geschichtsblättern zu entnehmen ist, stehen die Gebäude auf dem Areal eines Lehenhofes des Reutlinger Spitals, dessen Geschichte weit zurückverfolgt werden kann. Haus, Scheuer und Hofplatz, zu dem 26 Joch Acker und neun Morgen Wiesen gehörten, war bereits 1479 ein Erblehen eines Betzingers namens Conrat Ann. Nach der damaligen Beschreibung lag der Hof einerseits an Auberlin Tygels Hof, andererseits an Hans Stammlers Garten "der Echaz" und an der dritten Seite stand er an der mittleren Gasse, "die auch gen der Echaz us hin gaut".

Die Abgben der Familie Ann waren genau festgelegt. Sie musste ohne Rücksicht auf Ertragsschwankungen von den Äckern jährlich vier Scheffel Dinkel und genau so viel Hafer in sauberen und trockenen Körnern, außerdem sieben Fuder Heu, zwei Hühner im Herbst, 120 Eier zu Ostern und ein Huhn zu Fasnacht als Wiesenzins ans Spital nach Reutlingen abliefern.

100 Jahre später ist der Hof ein Erblehen der Witwe Michael Digels. Für die Zeit dazwischen werden Ludwig Ann, Hans Scherer und Jakob Mathis als Inhaber genannt. Die Abgabenpflicht war zwischendurch geändert worden: Die Spitalapfleger Michael Decker und Ludwig Kupferschmid einigten sich mit den Bewirtschaftern auf eine Landgarbe, die dem dritten Teil aller geernteten Früchte entsprach. Dafür zahlte das Spital 70 Gulden, mit deren Ablösung man der Ablieferungspflicht entgehen konnte.

Die neue Form der Abgaben bot dem Spital die Möglichkeit, den Grundstücksbesitz aufzustocken. Später ist deshalb bei einem neuen Inhaber namens Matthäus Digel von 28 Joch Acker die Rede. Der verkaufte den Spitallehenhof an den Betzinger Bürgermeister und Wirt Martin Nonnenmacher. Dessen Erben waren Sohn Martin und die Schwiegersöhne Hans Jerg Werenwag und Peter Faßnacht.

Martin Nonnenmachers Witwe heiratete den Reutlinger Metzger Johann Jakob Kurtz, der Ochsenwirt und Landwirt in Betzingen wurde. Nachbesitzer waren Johann Georg Kehrer, Daniel Kurtz und Johann Georg Kurtz. Dessen Witwe heiratete Martin Digel, der 1781 dann im Besitz des halben Hoflehens war. 1805 wurde es dem Sohn Christoph Digel hinterlassen, dessen Erben den Besitz 1843 aufteilten. 1898 verkaufte Jakob Digels Witwe das halbe Haus an den Krämer Ludwig Digel, der darin einen Laden einrichtete und die Hausnummer 6 zugeteilt bekam.

Die andere Hälfte gehörte 1860 dem Schuhmacher Johann Georg Digel, 1893 dessen Sohn Gustav Digel, Haus und Scheuer wurden zehn Jahre später dem Landwirt Daniel Wolpert übertragen. Seit 1909 trägt dieser Gebäudeteil die Hausnummer 4.

Ende der 1980er-Jahre erwarb die Stadt Reutlingen die Gebäude. Seit diesem Zeitpunkt standen sie weitgehend leer oder wurden als Lager genutzt. Zweimal wurde das Areal öffentlich zum Kauf angeboten. Ein bei der ersten Ausschreibung erfolgreicher Interessent hielt sein Angebot nicht aufrecht. Bei der zweiten Ausschreibung im Jahr 2011 war der Förderverein Ortskern Betzingen einziger Bieter. Er ist seit 2012 Eigentümer des Areals.

Bauhistorische Einordnung des Gebäudes Mußmehlstraße 6 (Von Tilmann Marstaler M.A. 2011)

Das Betzinger Bauernhaus in der Mußmehlstrasse 6 (Baujahr 1727) gehört zu den typischen Vertretern des frühen 18. Jahrhunderts. Bereits die Anlage des Gehöfts als Hakengehöft mit giebelständig an der Straße errichtetem Wohnhaus und quer dazu im rückwärtigen Teil der Parzelle gelegener Scheune kann als regionaltypisch gelten. Gleiches gilt auch für die Bauweise und Grundrisskonzeption des Hauses. In der vollständig verzapften oder als Druckstreben konzipierten Ausführung der schrägen Aussteifungshölzer steht das Gebäude ebenfalls ganz auf Höhe der Zeit. Dasselbe gilt auch für die Gestaltung der Fassaden, die paarweise an den Ständern angeordneten Fußstreben nur noch im Dachgiebelbereich zeigt, während man im Unterbau und an den Innenwänden wandhohe Feldstreben bevorzugte.

Der eigentliche Kernbau ist vermutlich wegen gravierenden Schäden am Bauholz durch Hausbockbefall bei mehreren, teils kräftig in die Substanz eingreifenden Umbauten im 19. und 20. Jahrhundert in seinem Originalbestand deutlich reduziert. Dagegen blieb die östliche Hauserweiterung, die auf das Jahr 1802 datiert werden konnte, mitsamt östlicher Sichtfachwerkfassade weitgehend original erhalten. Beide Bauphasen zeigen wichtige Hinweise zur Lage der Bauholzversorgung Betzingens im 18. und 19 Jahrhundert auf: der weitaus größte teil der hier verbauten Bauhölzer sind Nadelhölzer, die aus dem Floßholzhandel am Neckar stammen. Damit ist das Gebäude neben seiner charakteristischen regionaltypischen Bauweise auch ein Dokument der Wald- und Wirtschaftsgeschichte.

In dem rückwärtigen Teil des vermutlich erst im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert aufgeteilten Hauses scheint in manchen Bereichen die Zeit stehen geblieben zu sein. Dies gilt neben den seit 1802 nahezu unverändert gebliebenen Dachräumen vor allem für den in der Trennwand zwischen Küche und nordöstlichem Eckzimmer eingebauten Abort. Er erinnert nicht nur durch seinen Brettsitz, sondern vor allem durch seine Entsorgungseinrichtung mittels Brettschacht und Fasslatrine an Grabungsbefunde aus mittelalterlichen Städten und stellt damit ein einzigartiges Dokument für die Langlebigkeit menschlicher Wohnkultur auf dem Lande dar.

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